Die Geschichte der europäischen Stadt ist auch eine Geschichte städtischer Gartenkultur. Im Lauf der Zeit sind garten- und landschaftskulturelle Erwartungen und
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Die Geschichte der europäischen Stadt ist auch eine Geschichte städtischer Gartenkultur. Im Lauf der Zeit sind garten- und landschaftskulturelle Erwartungen und Manifestationen in den Städten zu wichtigen, oft bestimmenden Elementen ihrer räumlichen Struktur und Baukultur geworden. Städtische Gartenkultur bietet auch heute für die Lösung aktueller Stadtentwicklungsprobleme ein erhebliches, bisher zu wenig erkanntes Potenzial.
Man darf ohne Übertreibung in prägnanter Verkürzung festhalten:
Auf der Grundlage der jeweiligen naturräumlichen Situation gehören Gärten, Parks, Friedhöfe, Freianlagen für Spiel und Sport, Grünverbindungen, Plätze und Promenaden, Stadtwälder, Reste alter, bäuerlicher Kulturlandschaften und sonstige kultur-landschaftliche Überprägungen fest zum Bild europäischer Städte und Stadtregionen. Deren Einwohner erwarten, dass sie auch innerhalb ihrer baulich verdichteten Umwelt mit Natur und Landschaft in Verbindung bleiben. Sie sehen einen Vorteil des Lebens in der Stadt darin, dass dort in der Regel eine gartenkulturell überformte, menschenfreundliche, an ihre Wünsche und Sehnsüchte angepasste Natur zu finden ist. Diese Natur kann in den privaten und öffentlichen Gartenräumen und in den naturnahen Erholungsgebieten an den inneren und äußeren Stadträndern erlebt und genossen werden. Die Europäer würden nicht in Städten leben wollen, wenn es dort keine Gärten gäbe.
Zur Beantwortung der Frage, wie es zu dieser selbstverständlichen Erwartungshaltung kommen konnte, lohnt sich ein kurzer Blick in die Vergangenheit. Vor 1800 waren die Städte von Ausnahmen abgesehen klein und überschaubar. Jeder konnte die Natur- oder Kulturlandschaft vor den Toren der Stadt erreichen. Viele hatten vor diesen Toren auch einen Garten. Mit der Indu-strialisierung änderte sich diese Situation fundamental. Die Städte uferten in ihr Umland aus. Natur und Landschaft jenseits des Stadtrandes rückten in weite Ferne. Innerhalb der Städte lebten viele Menschen unter schlimmen hygienischen Verhältnissen in dunklen Hinterhöfen ohne Sonnenlicht und frische Luft und ohne Kontakt zu Flora und Fauna. Engagierte Sozialpolitiker setzten sich damals dafür ein, die Bedürfnisse der Menschen nach Zugang zu und nach Umgang mit der Natur in der Stadt selbst zu erfüllen, durch das Angebot von Gärten für Jedermann, durch die Schaffung großer, öffentliche Volksparks und die Pflanzung von Bäumen, durch die Anlage von Spiel- und Sportanlagen, durch die Einbeziehung historischer Gartenanlagen und die Erhaltung von als wertvoll erkannten Resten der Kulturlandschaft.
Eine entscheidende Weichenstellung erfolgte durch die Gründung von Gartenämtern in der zweiten Hälfte des 19. und am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihre Aufgabe war damals (und ist es im Grunde auch heute noch), dafür zu sorgen, dass die in den Städten lebenden Menschen den Kontakt zu Natur und Landschaft nicht verlieren. Diese für die Gartenkultur zuständigen Ämter haben oft im Widerstreit mit anderen Nutzungsinteressen, aber mit dem Rückenwind der Kommunalpolitik in den letzten 100 Jahren das Verhältnis der Menschen zu ihrer natürlichen Umwelt immer wieder neu interpretiert, sie haben schon bei den Kindern mit Schulgärten und Spielplätzen die Liebe zur Natur geweckt, sie haben mit der Erhaltung historischer Gärten und Kulturlandschaften und in letzter Zeit mit der Umdeutung ehemals industriell genutzter Flächen einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur und damit auch zur Identität der Städte geleistet. Insgesamt konnte durch ihre Arbeit in den europäischen Städten überwiegend eine ausgewogene Balance zwischen bebauten Flächen und Freiräumen und dadurch eine hohe Lebensqualität erreicht werden. Die Grünflächenämter, wie sie heute oft heißen, haben Maßstäbe gesetzt, die für die Bürger heute selbstverständlich sind und sie haben einen erheblichen Anteil daran, dass nach wie vor die meisten Menschen gern in Städten wohnen.
Zurzeit werden Politiker und Planer durch die Tatsache beunruhigt, dass in vielen Städten Deutschlands die Einwohnerzahlen nicht mehr steigen, sondern stagnieren oder sogar sinken. Mehr Menschen sterben als geboren werden und mehr Personen ziehen fort als zuwandern. Nicht nur einzelne Gebäude sondern ganze Stadtquartiere fallen dadurch brach oder man muss nach den Prognosen befürchten, dass dies in absehbarer Zeit geschieht. Da Städte seit 200 Jahren immer nur gewachsen sind und alle Steuerungsinstrumente und die gesamte Fachausbildung von Stadt- und Regionalplanern auf dieses Wachstum ausgerichtet wurden, wirkt dieses neue Phänomen der Schrumpfung stark verunsichernd. Therapien werden in verschiedenen Richtungen gesucht und besprochen. Merkwürdiger Weise spielt in dieser teilweise aufgeregten Diskussion über die Zukunft der Städte die städtische Gartenkultur nur eine untergeordnete Rolle, ja sie droht als einer der Garanten bisheriger städtischer Lebenskultur sogar unter die Räder zu geraten. Folgende Entwicklungen sind zu beklagen:
1. Die kommunalen Finanzen befinden sich in vielen Städten in einer prekären Lage. Der finanzielle Spielraum ist oft so eingeengt, dass nur noch die Pflichtaufgaben erfüllt werden können. Gartenkultur gilt nicht als Pflichtaufgabe. Sie wird deshalb als disponibel und weniger wichtig angesehen und mit weniger Ressourcen versorgt. Dieses Schicksal teilt die Gartenkultur mit anderen kulturellen Angeboten, der Bildenden Kunst, der Literatur, der Musik und dem Theater, die auch als Luxus gelten.
2. Diese desolate Finanzsituation hat die Städte veranlasst, über "schlanke" Verwaltungen nachzudenken und mutig neue Organisationsmodelle zu probieren. Die Grünflächenämter scheinen in diesem Organisationsspiel besonders beliebte Opfer zu sein. Sie werden geplündert, verkleinert oder zerschlagen. Nachdem sie ungefähr hundert Jahre lang in einer Gesamtverantwortung für die kommunale Gartenkultur erfolgreich gearbeitet hatten, verschwinden sie jetzt in übergreifenden Planungsreferaten, Bauämtern und kommunalen Betrieben.
3. In Verbindung mit der Schrumpfung der Städte wird Stadtgrün nicht nur quantitativ in Frage gestellt, was ja richtig ist, sondern bekommt prinzipiell einen anderen Stellenwert: Die Freiräume werden zum Lückenfüller, zum temporären Platzhalter. Sie scheinen plötzlich im Überfluss vorhanden zu sein und werden zum negativen Zeichen schwindender städtischer Lebenskraft. Während früher das städtische Grün gegen harte andere Nutzungsinteressen verteidigt oder als etwas Besonderes, so zu sagen Luxuriöses, errungen werden musste, wird es nun zu einer Begleiterscheinung des Niedergangs. Anstelle der historisch gewachsenen Gartenkultur hält wilde Natur Einzug und ein engherziger Arten- und Biotopschutz betritt die Bühne.
Dieser Niedergang kommunaler Gartenkultur kann nur aufgehalten werden, wenn es gelingt, schon in den Kindergärten und Schulen beginnend ein öffentliches Bewusstsein für ihre wichtige historische und ihre unverzichtbare aktuelle Bedeutung in der städtischer Lebens- und Baukultur wachzurufen und dadurch mutige politische Weichenstellungen zu ermöglichen. Dazu werden hier drei Forderungen formuliert:
A. Städte und Gemeinden müssen finanziell gestärkt werden.
Zunächst geht es allgemein darum, dass die Städte und Gemeinden, die ja nach dem Grundgesetz die Grundlage unseres Staates bilden, dauerhaft in die Lage versetzt werden müssen, die ihnen zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen und zwar nicht nur die Pflichtaufgaben, sondern auch die freiwilligen, die eine Gesellschaft erst zu einer lebenswerten Gesellschaft machen. Das gilt insbeson-dere für den kulturellen Bereich und als Teil davon für die Gartenkultur.
Erfreulicher Weise haben sich die finanziellen Rahmenbedingungen der Gemeinden in den letzten Jahren wieder etwas verbessert (oder sind jedenfalls nicht schlechter geworden). Bund und Länder müssen bei ihren, die kommunalen Finanzen betreffenden Entscheidungen darauf achten, dass Städte und Gemeinden in diesem Sinne leistungsfähig bleiben.
B. Gartenkultur muss innerhalb einer Stadtverwaltung in einer Verantwortung hochrangig gesteuert werden.
Die Kommunen und die Organisationen, die sie vertreten sollten davon absehen, leichtfertig der kommunalpolitische Mode zu folgen, Umstrukturierungen von Verwaltungen in jedem Fall für erstrebenswert zu halten. Es ist an der Zeit zu fragen, ob die bereits durchgeführten organisatorischen Veränderungen wirklich immer den Erfolg gebracht haben, den man sich von ihnen erhofft hat.
Ein Kennzeichen organisatorischer Veränderungen kommunaler Verwaltungen war in den letzten 15 Jahren, dass fachliche Orientierungen gegenüber funktionalen Zusammenfassungen mehr und mehr zurückgedrängt wurden. Die bewährten Grünflächenämter und die Aufgaben, für die sie einmal geschaffen worden waren, hatten darunter besonders zu leiden. Oberflächlich mag manches dafür sprechen, alle Planungserfordernisse, alle Bauaufgaben und alle betrieblichen Verpflichtungen jeweils in einer Organisation zusammenzufassen (mit dem Ergebnis, dass beispielsweise derselbe kommunale Betrieb nicht nur Bäume pflegt, sondern auch Bordsteine repariert). Im Ergebnis hat das allerdings oft dazu geführt, dass sich die gartenkulturelle Aufgabenwahrnehmung im Gestrüpp der Subordination verflüchtigte. Die Grünflächenämter konnten aber nur deshalb 100 Jahre lang erfolgreich arbeiten, weil in der Regel die gesamte, mit der Gartenkultur zusammenhängende Verantwortung organisatorisch an einer Stelle verankert war. Der Leiter oder die Leiterin eines Grünflächenamtes repräsentierte den gesamten Aufgabenbereich und hatte nur dadurch in der Hierarchie der Verwaltung eine relativ hohe Stellung. Die gebündelte Kompetenz garantierte übrigens auch, dass die begrenzten Ressourcen für die Gesamtaufgabe von Planung, Bau, Pflege als Angebot einerseits und für die Nutzung durch die Bürger andererseits optimal eingesetzt werden konnten.
Wenn Städte auch in Zukunft grüne Städte bleiben wollen, dann brauchen sie eine Organisation, die den hohen Stellenwert des gartenkulturellen Aufgabenbereichs zum Ausdruck bringt und ihn arbeitsfähig macht. Dabei muss immer bedacht werden, dass Gartenkultur nicht von sich aus durch Gesetz oder durch direkten betriebswirtschaftlichen Erfolg Kraft und Macht entfaltet, sondern ebenso wie die anderen Bereiche der Stadtkultur in besonderer Weise auf die Unterstützung der Kommunalpolitik angewiesen ist.
C. In der aktuellen Krise der Städte sollte die städtische Gartenkultur als Chance für eine Belebung der Baukultur begriffen werden.
Wenn man sich bekannte Städte wie München, Köln oder Dresden vor Augen hält und ihre besonderen Gestaltmerkmale im Kern zu erfassen versucht, dann landet man immer bei der Land-schaft. München wird durch die wilde Isar geprägt, Köln durch die Lage am beeindruckend breiten Rhein und Dresden durch die schwingenden Elbaue. Viele Städte sind in solchen besonderen landschaftlichen Situationen entstanden. Nicht immer sind diese so ins Auge fallend wie bei den drei genannten Städten, aber auch Hannover, Kassel oder Halle können auf naturräumliche Charak-teristika in der Stadtstruktur verweisen, die nur sie haben und die sie einzigartig und unverwechselbar machen. Oder machen könnten; denn im Laufe einer Stadtgeschichte sind solche landschaftlichen Grundmerkmale häufig missachtet worden. Sie wurden im Schwung eines ungebremsten Wachstums durch Bauvorhaben an störender Stelle und in missratener Gestalt vielfach geschwächt. Das aktuelle Beispiel einer neu geplanten Brücke über die Elbe in Dresden zeigt, wie leicht durch scheinbare Sachzwänge eine solche, im Naturraum liegende Einzigartigkeit vernachlässigt werden kann.
Allerdings hat es in der Geschichte der Städte immer auch das Gegenteil gegeben, also den positiven und oft auch gelungenen Versuch, städtebaulich und gartenkulturell auf die naturräumliche Situation zu antworten. Auch dafür ist Dresden ein hervorragendes Beispiel. Die Aufnahme des Dresdener Elbtals in die Welterbeliste der UNESCO ist ein Beleg für die gelungene Reaktion auf und die Anpassung einer Stadtgestalt an die natürliche Landschaft. Dabei gilt nicht nur die Stadtsilhouette am Elbufer als bewundernswert, sondern auch die Abfolge historischer Gärten, der Große Garten, der Zwinger, die Anlagen von Pillnitz und Großsedlitz, beeinflussen das Bild von Dresden. In gleicher Weise sind in Halle mit der Perlenschnur von Gärten entlang der Saale oder in Leipzig mit den dunklen Auwäldern mitten in der Stadt oder in Hamburg mit der Alster solche landschaftlichen Prägungen gestaltend eingefangen, quasi gartenkulturell umgeformt worden.
Vermutlich verfügt jede größere Stadt über solche Elemente der Stadtgeschichte, die ihren Ursprung in der naturräumlichen Lage haben, im Rahmen einer langen Gartentradition verändert wurden und heute wesentlich zur Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt beitragen. Die Stadt Hannover hat ihre Herrenhäuser Gärten, Kassel die Fuldaaue und den Park Wilhelmshöhe, Berlin den Tiergarten und so könnte eine lange Reihe landschaftlicher und gartenkultureller Besonderheiten für viele Städte in Deutschland aufgezählt werden.
Der gegenwärtige Stillstand oder die Verlangsamung des Wachstumsimpulses sollte als Chance begriffen werden, solche in der natürlichen Landschaft liegenden Qualitäten und im Laufe der Zeit daraus oder daneben entstandenen gartenkulturellen Besonderheiten unter dem Schutt von Fehlentwicklungen wieder hervorzuholen und ebenso wie die historischen Bauten für die Unverwech- selbarkeit eines städtischen Gesichts zu nutzen. Im verstärkten Wettbewerb der Städte untereinander ist ein schönes Gartengesicht gewiss ein nicht zu unterschätzender "weicher" Standortfaktor. Die Einwohner einer Stadt würden eine aktive Gartenpolitik gewiss dankbar annehmen, sie würden gern in ihrer Stadt bleiben oder wieder zu ihr zurückkehren. Denn sie wollen dort keineswegs nur das vorfinden, was in allen Städten in gleicher Art auf den Tischen liegt, sie wollen dort auch nicht nur ihren Geschäften nachgehen und versorgt werden, sondern auch das Besondere entdecken können. Sie wollen in ihren eigenen kleinen oder großen Gärten die Natur spüren, aus alten historischen, aber auch aus neuen Gärten und Parks Selbstbewusstsein schöpfen und in einer lebendigen Gartenkultur Lebenszufriedenheit erreichen.
Kaspar Klaffke
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftskultur DGGL e.V.
Berlin, im Dezember 2006